Die Zeit des historischen Verfahrens

von Pierre Saint Macary
Mauthausen, Melk, Häftlingsnummer 6312


“Das Überleben des Gedenkens der KZ Lager hängt mehr denn je von der Genauigkeit der Geschichte ab, von der sie ausgeht“ : diese Behauptung eines Geschichtslehrers bringt die Sorge zum Ausdruck, die dazu geführt hat, die kollektive Arbeit zu fördern, deren Ergebnis diese Leistung ist.

Die vom Rednerpult herab gehaltenen Reden haben den Umfang des Nazi- Verbrechens, die Grausamkeit des KZ- Systems und das Ausmass der Verluste an Menschenleben bis zum Überdruss wiederholt. Diesen Reden kann man aber allerdings nur vorwerfen , leidenschaftlich , ausdrucksvoll, heftig, einseitig, ja ziemlich wenig darauf bedacht zu sein, die Wahrheit zu respektieren.

Die Nüchternheit der Namenlisten, die hier zu finden sind, die sachliche Aufstellung der Statistiktabellen, lassen dagegen überhaupt keine Auswegmöglichkeit. Von den entweder. direkt von Frankreich aus , oder nach Transit durch andere Lager nach Mauthausen deportierten Franzosen sind hier die Identitäten, die Ankunfts- Versetzungs - Todes- oder Heimkehrsdaten, sowie die jeweiligen einzigen oder mannigfaltigen Einsatzorte, je nach den Zufällen des KZ-Lebens oder genauer gesagt, je nach den Ukasen der SS- Bürokratie.

Von diesen streng aufgestellten Listen aus ist es möglich, das Schicksal der “Alten” oder der “Jungen”, die Vergasten von Hartheim, die Überlebenden von Loibl-Pass, das sehr unterschiedliche Schicksal der “Melker”, je nach dem, ob sie im Mai oder im September 1944 angekommen sind , klar darzustellen, oder auch das Verhältnis zwischen Haftdauer und Überleben zu messen.

Zahlen und Graphiken, so beweiskräftig sie auch sein mögen, informieren natürlich nicht über das Leben der Häftlinge im Alltag oder bei den wichtigen Ereignissen. Das, zum Beispiel, was sie gemacht haben, um zu überleben, um das Ende der Haft zu erreichen oder im Gegenteil, wie ihre Freunde umgekommen sind, durch Unfall, Krankheit oder noch schlimmer, von den SS oder ihren Helfern gefoltert, all das liest man nicht in den Zahlen, sondern in den Zeugnissen. Ob mehr oder weniger talentvolle, naive oder ausgearbeitete literarische Werke oder Kunstwerke, es fehlt nicht an Zeugnissen : Werke, Publikationen, Zeichnungen, Photos, dazu nachträglich entstandene Dokumente, Filme, Berichte, Führer usw., die man hinzufügen kann . Der Wille, ein Buch über die Franzosen von Mauthausen herauszugeben, ist nicht originell: andere Vereine (Dachau, Neuengamme, Buchenwald,…) haben das schon mit Erfolg erreicht . Über fünfzig Jahre nach der Rückkehr vom Lager scheint es verspätet . Der Wunsch existierte eigentlich seit langem und wurde nie unterbrochen: dank den Bailina Listen, die 1945 von Emile Valley und Serge Choumoff nach Frankreich gebracht wurden; sie haben lange als Referenz gedient und wurden im Jahr 2000 im Staatsarchiv abgegeben ; dank den persönlichen Arbeiten von verschiedenen Kameraden.

Es mag sonderbar scheinen- um nicht strenger zu sein- dass die Staatsmacht, d. h. die Verwaltung der ehemaligen Frontkämpfer und der Kriegsopfer dieses Projekt nicht für die Gesamtheit der Deportierten gleichzeitig mit der Verleihung der“ Titelkarten” durchgeführt hat . Tatsächlich, auch wenn diese Titel untersucht und nur denen gewährt wurden, die darum ersuchten, hat man doch globale Listen mit Dokumenten aufstellen müssen, die in Besitz von dem Ministerium oder von dem internationalen Dienst von Arolsen(I.T.S.) waren. Kein einziges endgültiges Dokument, keine offiziellen Zahlen sind je veröffentlicht worden, auch wenn persönliche Teilantworten auf verschiedene Bitten haben gegeben werden können.

Es muss ja zugegeben werden, dass die Brutalität des Traumas so gross gewesen ist, dass die Heraufbeschwörung der Zahlen eine ganze Zeit lang, schon bei der Befreiung, ein Tabu war, was nicht ohne Nachteil war: die Gedenkstätte der Deportation in der Ile de la Cité (Paris) erwähnt keine einzige Zahl. Entgegen der Bestreitung der Negationisten kamen die Ansprüche nach Genauigkeit erst zwei oder drei Jahrzehnte später auf.

Was Mauthausen selbst betrifft, soll man Hans Marsalek (Historiker und ehemaliger österreichischer Häftling von Mauthausen) zitieren, der erklärte, dass er die auf den offiziellen Gedenktafeln stehende Zahl von 13000 Franzosen nach seinen Erinnerungen und nicht nach genauen Dokumenten angegeben habe, da die Dringlichkeit des Ersuchens der Sowjets, als sie den österreichischen Behörden das Lager übergaben, ihm nicht erlaubt habe, seine Zahlen zu überprüfen?

Man hatte die Initiative von Serge Klarsfeld und von dem C.D.J.C nötig. , welche die Transporte aus Drancy zählte und die vollständigen Listen der Deportierten jedes Transports veröffentlichte, um mit der Erkenntnis anzufangen , dass es notwendig und sinnvoll sein konnte, nach einer ausführlichen und exakten Forschungsarbeit zu streben.

Die 1998 von der Stiftung für das Gedenken der Deportation unternommenen Forschungen, um die Deportierten aus Repressionsgründen (aus welchem Grund es auch sein mochte) zu zählen, sollen dieses Fehlen der fünfziger und sechziger Jahre beseitigen. Sie haben zahlreiche Schwierigkeiten erscheinen lassen: die Listen der Transporte aus Compiègne sind nicht wieder gefunden worden, die Listen der NN, die schliesslich Häftlinge geworden sind, waren schwierig zu interpretieren, die Buchführung der Flüchtlinge und der Toten jedes Transports konnte erst nach nachträglichen Dokumenten (Aussagen und Zeugnissen) aufgestellt werden, usw. Sechs Jahre intensiver Bemühung haben erlaubt, die Arbeit zu vollenden und das Erinnerungsbuch der repressiven Deportation entweder drucken zu lassen (vier dicke Bände) oder auf CD-Rom im Mai 2004 herauszugeben.

Keiner dieser Nachteile lässt sich in der Bestandsaufnahme der Franzosen von Mauthausen wieder finden, da die wesentlichen Dokumente des Lagerbetriebs , insbesondere diejenigen, die die Kontrolle des Häftlingsbestands betreffen, zurück gewonnen und aufbewahrt worden sind.

Hier sind also alle Namen, alle Daten, alle Orte.

Hier sind, objektiv und nicht mehr subjektiv dargestellt, die Wirkungen der Arbeit im Steinbruch, für die Terrasse, im Bergwerk, bei Regen und Schnee oder in der Tiefe der Stollen….

Hier sieht man die Wirkungen der Massenanhäufung, des Zusammenpferchens, der kargen Nahrung, des vollständigen Hygienemangels und der ungenügenden oder nicht vorhandenen ärztlichen Pflegen….

Hier sieht man, was Brutalität und Grausamkeit der Menschen, aber auch was Mut und Solidarität bedeuten.

„Was ist aus unseren Freunden geworden ?” fragte der Dichter vor vielen Jahrhunderten . Jetzt können wir auf seine Frage antworten.


General Saint Macary
Präsident, dann Ehrenpräsident des Freundesvereins von Mauthausen
(1920-2006)
(Archive des Autors- mit der Genehmigung von Monique Saint Macary veröffentlichtes Dokument)